Von Tätern und Opfern – Das Problem der Öffentlichkeit

Diese Woche hat mich das Schicksal von Amanda Todd aufgeschreckt. Die junge Frau hat kurz vor ihrem Selbstmord durch einen Beitrag auf Youtube darauf aufmerksam gemacht, wie ihr Leben von einzelnen Menschen zur Hölle gemacht wurde. Dass sie im Video Dylans „Subterranean Homesick Blues“ als Erzählstil wählte, war wohl kein Zufall. Kurz darauf  las ich den Artikel „Wie ein Online-Stalker vorgeht„. Meine Twitter-Beiträge dazu brachten in der Diskussion vier Punkte auf, die mich weiter zum Nachdenken anregten:

  1. FSK für Dialogmedien (aka Social Media)
  2. Das gab es früher schon. Falsch, die Dialogmedien hier zu verteufeln
  3. In der Diskussion wird die Verantwortung nur auf das Opfer abgeschoben
  4. Wir brauchen keine Regeln, sondern Werte (erst vielleicht ein paar Regeln, weil die Wertevermittlung langsam ist)

Wann ist man ein Opfer, wann ein Täter?

Die Frage mag auf den ersten Blick einfach erscheinen, aber kaum nagt man etwas an den Begriffen, wird’s knifflig. Ich meine, ein Opfer ist dann ein Opfer, wenn es sich als solches fühlt, ganz egal wer was tut.
Doch wie ist das, wenn die Freunde einen Menschen als Opfer sehen, die Person sich selbst aber nicht so fühlt? Noch komplizierter wird es dann, wenn sich das Opfer während der „Tat“ – und auch entgegen all den Betörungen seiner Freunde – nicht als Opfer fühlt, sondern erst im Nachhinein. Und wie ist es mit den Tätern? Sind sie Täter, wenn das Opfer sich nicht so fühlt und nur die Freunde das sehen? Ich frage mich auch, wie viele Täter sich denn als Täter fühlen? Ich meine bewusst, mit Vorsatz.

Selbst im klaren Fall von Vorsatz – der Täter sucht sich ein Opfer aus und fügt im Schaden zu – stellt sich die Frage nach dem Schaden. Wenn jemand einer anderen Person das Pausenbrot stiehlt, ist der Fall klar, aber wie ist es, wenn jemandes Status und Ansehen in einer Gruppe oder Gesellschaft verunglimpft wird? Wir haben keinen Massstab für solche Vergehen.

Alle die meinen, die Frage sei etwas überkompliziert ausgekostet und das könne ihnen nicht passieren, sollen sich mal Folgendes überlegen:

  • Vater postet heute ein Bild seines Sohnemanns auf Dialogmedien (z.B. Instagram, Twitter), bei dem man lustig sehen kann, wie er an seinem Pimmelchen rumzupft, während er ein Eis isst.
  • In zehn Jahren gräbt ein Schulkollege des jetzt 13-Jährigen Sohnemanns das Bild aus und beginnt, ihn damit zur Schnecke zu machen.

Wer ist Täter, wer ist Opfer, was ist der Schaden?

Das Problem der Öffentlichkeit

Wir sind uns nicht gewohnt in der Öffentlichkeit zu stehen und viele die in der Öffentlichkeit stehen, würde das wohl lieber nicht (mehr). Dennoch streben wir unsere 15Minuten Ruhm an wie Getriebene (ich ja auch, sonst würde ich das alles für mich behalten und keinen Blogbeitrag schreiben). Nein, die Öffentlichkeit ist kein böses Monster, aber ein Ungetüm, das schnell Emotionen freisetzen kann und bei dem schneller gerichtet als gedacht, schneller kommentiert als nachgeforscht wird. Denn was wissen wir schon, was zwischen dem Herrn Kachelmann und seiner Freundin vorgefallen ist und überhaupt: Was geht es uns an? Letztlich sind wohl beide Täter und Opfer und sie beide haben den Schaden.

Wie urteilt denn die Öffentlichkeit? Das Aussergewöhnliche hat keinen Platz, kein Verständnis. So ecken spezielle Menschen noch mehr an und werden schnell schubladisiert. Wehe, wer gegen die allgemeine (Schein-)Moral verstösst. Die einzige Chance für Aussenseiter sind die des „kleinen Mannes“ oder grobe Ungerechtigkeiten. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie der Mob im Falle von Amanda Todd auf das „Flashing“ und den U16-Sex reagiert hätte (oder hat).

Auf das Urteil des Mobs folgt die Machtlosigkeit. Denn ist die Information mal öffentlich, ist sie für einen Privaten kaum mehr zu kontrollieren. Wir haben keine PR-Berater, die uns sagen, was wir tun sollen und noch wichtiger, wann wir nichts mehr tun sollen. Es lohnt sich darum, sich immer wieder zu hinterfragen, was man öffentlich macht. Selbst ich, weit weg von pubertären Hormonschüben und sozialem Elend, ertappe mich hie und da, dass ich was besser nicht öffentlich gesagt hätte.

„Die ich rief die Geister, werd ich nun nicht los.“
Johann Wolfgang von Goethe

Dialogmedien: Wolf und Schäfchen zugleich

Die heute zur Verfügung stehenden Dialogmedien machen es noch einfacher, in der Öffentlichkeit zu stehen und man kann einfach die Ferienfreundschaften auch noch nach Jahren wieder kontaktieren. Das ist der Vorteil, dass das Web nicht die gute Eigenschaft des Menschen besitzt, vergessen zu können und was es noch komplizierter macht, ist die Reichweite der Medien:

  1. 1 – 1:                Person A sagt Person B „Ich hab…“
  2. 1 – n                 Person B sagt Person C „Übrigens Person A hat..“
  3. n- n                  Das Geschwafel geht los
  4. n – n exp(n)     Jeder kann es wissen

Punkt 1 ist ein privates Gespräch, Punkt 2 schlecht über jemanden geredet, Punkt 3 was früher schon in der Gemeinde/Gruppe geschah: Alle wussten es, es wurde hinter vorgehaltener Hand – oder auch nicht – getuschelt. Man konnte umziehen und je nach dem wie weit man das tat, konnte die Informationskette gekappt werden oder man vergass es, weil das eine gute Eigenschaft der Menschen ist, zu vergessen.

Punkt 4 brauchten die Dialogmedien mit sich. Sie ermöglichten, dass jedem zustand, was sonst nur Stars zustand: In der Öffentlichkeit zu stehen, im Guten wie Schlechten. Meine Ferienbekanntschaften erfahren es genau so, wie meine neue Schule. Mehr noch: Während früher einfach ein Titel eines Mediums auf eine Story aufspringen konnte, kann es heute jeder und wenn er will, erst noch anonym und mit unglaublicher Vehemnenz.

Spätestens ab Stufe 3 steigt die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwer dabei ist, der einfach mit Draufhauen beginnt und damit weitere Personen anzieht, die es gleich tun.

„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“
Albert Einstein

Wenn man selbst etwas öffentlich macht, kann es mit den Urteilen schon heftig werden, noch schlimmer wird es, wenn Dritte Privates öffentlich machen und noch schlimmer, wenn das mit Absicht geschieht. Einer Absicht, die wiederum dazu dient, dem Veröffentlichter mehr Ansehen und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Gründe sind für Täter und Opfer immer dieselben und diese Kräfte sind so stark, dass sogar ein Königshaus vibriert. Kein Wunder verstecken sich öffentliche Personen vermehrt hinter einem Pseudonym. Lady Gaga wäre wohl nur schwer im Telefonbuch zu finden. Sie schafft sich damit die Chance, später wieder ein Leben ausserhalb der Öffentlichkeit zu führen.

Nein, ich will die Dialogmedien nicht verteufeln, denn sie können in solchen Fällen auch helfen Verbündete zu finden, die sich für einen ins Zeug legen und eine Wende schaffen können. Das braucht aber immer Wortführer, die bereit sind einzustecken. Wie schwierig das ist, wurde schon am Beispiel des Buches/ des Films „Die Welle“ klar.

“The whole idea of The Wave is that the people in it have to support it. If we’re really a community, we all have to agree.”
Robert Billings (die Mitläufer-Figur aus „The Wave“)

Helfen Verbote?

Ich meine, dass Verbote wie z.B. FSK 18 nichts helfen. Im Gegenteil: Die süsseste Frucht war immer schon die verbotene. Ab 16 darf man Kinder haben, die meisten hatten schon vorher Sex. Vergleicht man die Entscheidung für Kinder mit der für Dialogmedien, wird schnell klar, wie gewichtig die Unterschiede sind. Weit sinnvoller erschiene mir, wenn man die Eltern und die Lehrer in die Pflicht nehmen würde, sich mit Dialogmedien zu befassen. Das schützt aber auch nicht davor, wenn jemand etwas Privates publik macht. Dagegen ist man schlicht machtlos.

Werte

So fällt in solchen Diskussionen der Ball wieder zurück auf die viel zitierten Werte. Aber welche Werte sind es denn, die wir bemühen wollen, um uns von einem mittelalterlichen Mob zu unterscheiden? Ich meine, es ist vor allem der Verzicht. In einer Gesellschaft, wo alles um viel Erfolg, Follower und Zahlen ganz im Allgemeinen geht, ist Verzicht nicht mehr gut angesehen oder nur dann, wenn man ihn als resultierende Erkenntnis erreicht. Ein Manager der nach einem Burnout kürzer tritt, wird aufs Schild gehoben, wenn er es vorher tut, ist er schnell zum Weichei abgestempelt. Ein Teenager der von seinen Eskapaden erzählen kann, ist unter seinesgleichen besser angesehen, als der, welcher zum Vornherein auf Markenartikel verzichtet, für den der erste Sex auch nach 20 stattfinden kann und der einen Teil seiner Ferien für gemeinnützige Arbeit hingibt.

Ein weiterer Wert, der uns – wie mir scheint – immer mehr abhanden kommt, ist die Menschen zu lieben. Denn all das Getratsche, all das Hintenrum kann ja sein, es liegt vielleicht sogar in unserer Natur. Vielleicht merkt man es ja erst auch gar nicht, dass sich dabei jemand als Opfer fühlt. Doch wenn man dann an den Punkt kommt,  wo man selbst erkennt, dass man einem Menschen mit seinem Tun schadet (was auch immer der Schaden ist  – siehe oben), sollte man sich regeln. Es schadet auch nicht, sich mal für eine Sache zu entschuldigen; wenn das öffentlich geschieht, zeugt das sogar von Grösse. Es braucht auch jemanden, der den ersten Schritt macht, wenn man sich wieder mit Toleranz begegnen möchte.

Mein Fazit

Es geht mir nicht darum, den Mahnfinger zu heben, ich bin ein Mensch wie andere auch und wenn ich von „wir“ schreibe, schliesse ich mich mit ein. Wie das mit komplexen Systemen so ist, lassen die sich nur langsam verändern, aber es ist wichtig daran zu arbeiten, damit wir Werte wie Verzicht wieder höher einstufen als Erfolg.

Im Fall von Amanda Todd ist alles zusammengekommen. Suche nach Anerkennung, Aufmerksamkeit und Liebe, Veröffentlichung von privaten Informationen, mehrfache vorsätzliche Verunglimpfung, Multiplikation über Dialogmedien, die Gruppe schlägt sich auf die Seite des Täters, ein Mob bildet sich, etc.
Hätte der Strudel zum fatalen Ende von Amanda Todd unterbrochen werden können? Das ist schwer zu sagen, denn die Geschichte wurde über die Medien vermittelt. Ich weiss zu wenig, was genau geschah. Aber mit Verzicht wäre das eventuell möglich geworden. Mit dem Verzicht des Täters, vor der Gruppe gut dazustehen. Vor seinem Verzicht aus der Anonymität zu handeln, dem Verzicht, das zu tun, was angesagt ist, mit dem Verzicht auf jemanden einzuprügeln, der schon am Boden liegt, dem Verzicht wegzusehen, dem Verzicht, ein schnelles Urteil zu fällen und dem Verzicht, jemandem eine neue Chance zu geben.

Und noch etwas scheint wir wichtig: Wir sollten daran arbeiten, damit das Internet vergessen kann. Das würde niemandem schaden und es würde das Leben, wie ich meine, wieder eine Spur lebenswerter machen.

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2 Kommentare zu “Von Tätern und Opfern – Das Problem der Öffentlichkeit

  1. Wunderbare Worte und Gedanken (bis zum Schluss gelesen 😉 Ich verteidige den Verzicht und auch die aus der Mode gekommene Demut auch sehr und wünsche mir, dass wir Menschen an uns arbeiten das Lästern und Werten sein zu lassen, dann sind wir vielleicht irgendwann fähig zu kommunizieren.

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