„Mehr Transparenz!“ ruft es derweilen aus aller Welten Wäldern, quasi als Breitbandantibiotika gegen alle gesellschaftlichen Krankheiten: Lohnungleichheit, proprietäre Daten, etc. pp. Transparenz ist ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit, kann sie aber auch verschärfen. Den Schlüsselgedanken für diese Erkenntnis gab mir das Referat des Philosophen Richard David Precht anlässlich des Marketingtages 2013. Er deutete das Experiment an Bonobs anders als „die Welt„. Er behauptet — und führt das Experiment als einen seiner Beweise an — dass der Mensch keinen angeborenen Gerechtigkeitssinn, sondern einen angeborenen Ungerechtigkeitssinn hat. Das tönt zunächst identisch und führt wohl auch oft zu demselben Resultat, basiert aber auf anderen Motiven. Es geht mir weniger um die Wortklauberei („Gerechtigkeit“ beschäftigt die Philosophen schliesslich schon seit Jahrtausenden), sondern um die Hilfe im Urteil, ob mehr Transparenz auch zu einem besseren Resultat führt.
Übrigens wird dem Ruf nach Transparenz selten ein Wort der Reichweite beigemischt. Für wen soll die Information transparent sein? Für alle, für relevante, für einzelne? Beispielsweise macht es — für mich — recht viel Sinn, dass meine Krankengeschichte für einen behandelnden Arzt transparent ist, jedoch wenig Sinn, dass sie auch für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Das zeigt, dass der Begriff „Transparenz“ für sich selbst schon ein schwieriger ist. Denn wie nennt man das Beispiel? „Selektive Transparenz“ oder „Semi-Transparenz“.
Zur Veranschaulichung habe ich zwei Beispiele angefügt, die zeigen, dass die Beurteilung der Transparenz durch den Ansatz eines Ungerechtigkeitsverständnisses einfacher fällt.
Beispiel 1 – Die Untreue
Gerade letzte Woche habe ich von einem Kollegen erfahren, dass er mit seiner Ehefrau, mit der er schon seit Jahren verheiratet ist, eine Abmachung betreffend „Ausrutschern“, also Seitensprüngen hat. Sie haben abgemacht, dass sie sich einen Ausrutscher nicht erzählen würden. Sie lassen ihren Partner— dem Menschen, dem sie am meisten vertrauen — deswegen also komplett im Dunkeln. Sie machen das, weil sie wissen, dass der/die Gehörnte sich ungerecht behandelt fühlen würde und dass so etwas — eine Ausrutscher im Sinne des Wortes — einfach passieren kann und erst dann zum Problem wird, wenn die Probleme ganz an einem anderen Ort liegen, wo sie dann hoffentlich auch zur Sprache kommen.
Beispiel 2 – Die Managerlöhne
Vorweg: Ich find die Dimensionen, die Top-Managerlöhne angenommen haben auch verwerflich und nicht mehr logisch zu rechtfertigen. Aber was passiert, wenn die Managerlöhne für einen grossen Kreis offengelegt werden? Würde Herr Brady Dougan auf Lohn verzichten, weil es gerechter wäre, dass er nicht mehr Lohn als seine Kollegen mit vergleichbarem Job erhält? Wohl kaum.
Würden seine Kollegen in vergleichbarer Position darauf pochen, dasselbe zu verdienen, weil sie sich sonst ungerecht behandelt fühlen? Sehr wahrscheinlich.
Als Resultat würde die gesamten Managerlöhne weiter ansteigen und die Lohnschere noch weiter aufgehen (kleiner Einschub: Nein, eine 1:x-Regelung macht da keinen Sinn, weil mit Regelung von Extremwerten die Lage einer Verteilung nur unzulässig verbessert wird. Bitte erspart mir einen Statistik-Blogbeitrag, danke).
Transparenz — Kein Breitbandmedikament, nur für überlegten Einsatz empfohlen
Ich meine, es gibt viele weitere Beispiele, die beweisen, dass die Förderung von Transparenz nicht zu einem besseren Resultat führt. Darum meine ich, dass Transparenz als Wirkstoff nur sehr gezielt eingesetzt werden sollte. Beispielsweise um als Bürger zu erkennen, welche Interesse ein Politiker verfolgt, oder Qualitätsbezeichnungen von Lebensmitteln. Doch wann anwenden? Als Entscheidungshilfe finde ich den Fünf-Schritte-Prozess spannend, den der Sicherheitsexperten Bruce Schneier empfiehlt, um zu entscheiden, ob eine Massnahme zur Verbesserung der Sicherheit taugt. Für die Transparenz würde ich noch einen zusätzlichen Punkt (0) hinzufügen:
0) Für wen soll die Information transparent sein?
1) Was für ein Problem löst die Transparenz?
2) Wie löst die Transparenz das Problem?
3) Welche neuen Probleme bringt die Transparenz hervor?
4) Welche ökonomischen und soziologischen Kosten löst die Transparenz aus?
5) Ist die Transparenz diese Kosten wert?
Diese Überlegungen auf Basis eines angeborenen Ungerechtigkeits-Empfindens anzustellen, hilft bei der Beurteilung gesellschaftlicher Probleme und nicht nur dem der Transparenz.